литературный журнал

Dmitrij Belkin

Brief an einen fortgeschrittenen Einwanderer

Aus dem Buch „Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“. Veröffentlicht im Heft „Berlin.Berega“ №2/2016


Verfasst im angetrunkenen Zustand in einer Bar in Berlin-Mitte

Lieber unbekannter Freund!

Überwinde so schnell wie möglich das Gefühl einer Katastrophe, mit dem du – meistens ein Einwanderer aus dem Land einer Katastrophe – seit Jahren lebst. Viele Züge fahren zwar in Deutschland ohne dich ab, doch das macht überhaupt nichts. Warte ab, begrabe die Ahnung einer nahenden Apokalypse. Die Menschen hier mögen dieses Gefühl nicht.

Sie verfügen darüber schon selbst in einem übermäßig hohen Maß. Sei locker, aber nie zu locker. Überflüssige Ironie kann bald als eine Bedrohung aufgefasst werden. Sarkasmus, der sich bei dir im Zuge deiner Einwanderung und deines nicht immer wolkenlosen Ankommens reichlich angesammelt hat, ist tödlich. Insbesondere in der Kommunikation mit den Chefs. Gib deinem Gegen-über und vor allem dir selbst Zeit – der Sarkasmus legt sich. Dann kommuniziere weiter, aber bitte sachlich und zuvorkommend. Blende vorherige Dramen aus. Geh lieber einmal mehr ins Theater – erlebe dort die Dramen der anderen. Deine Unzufriedenheit mit diesem oder jenem ist deine persönliche Sache. Du machst aus ihr auch keine Zufriedenheit, wenn du sie laut artikulierst. Du verunsicherst so vielmehr die ohnehin schon stark verunsicherten Menschen in deinem Umfeld. Praktiziere nicht das amerikanische »Alles ist großartig!«, denn das ist eine reine Illusion; lass aber auch das deutsche »Alles ist unmöglich!« beiseite  – negativ zu sein, ist eine Prärogative der Einheimischen, oft ihr letzter Hafen.

Die Verschlechterung deiner beruflichen Situation bedeutet noch gar nichts. Die Dinge entwickeln sich irgendwann zum Besseren oder stabilisieren sich auf einem guten mittleren Niveau. Das emotionale Korrigieren-Wollen einer Situation mündet meistens in einen tiefen Abgrund. Du glaubst, man muss etwas sagen, ich sage dir: Man sollte besser schweigen. Natürlich darfst du reden, offen sein und dich beklagen, so viel du möchtest. Aber sei dir darüber im Klaren, dass dann das Arbeits- beziehungsweise das Sozialamt und/oder die Psychiatrie übernimmt.

Es kann passieren, dass mit dir gespielt wird. Die Kunst der Intrige, zumal innerhalb eines hierarchischen Verhältnisses, ist weit verbreitet. Weise dein Gegenüber keinesfalls auf die unschönen Seiten seines Spiels hin, das er gerade mit dir betreibt. Seine Angst, die German Angst, ist eventuell noch größer als deine Einwandererangst. Denn die Sorge, eine negative Entscheidung treffen zu müssen, ist furchtbar. Ich hoffe, diese Gewissheit tröstet dich ein wenig. Gedulde dich, lerne zu ertragen, zu schweigen und abzuwarten  – auch wenn alles in dir nach Erneuerung schreit. Zügele dein Temperament. Schreibe nie genervte, unzufriedene E-Mails, und flüstere statt zu schreien. Eine blöde Mail, ein ungeschicktes Wort – so etwas bleibt gerne hängen, und ein erst mal entstandenes Image lässt sich in Deutschland nur noch schwer korrigieren.

Erwarte keine Unterstützung, wenn du einen hoffnungslosen Kampf mit jemandem »da oben« startest. Du schaffst keine revolutionäre Situation, auch wenn du in einem Land der revolutionären Gerechtigkeitsromantik der 68er bist. In Deutschland sucht man Stabilität und will keine Umbrüche, zumal keine, die von den Zugezogenen initiiert werden. In Germanija »konsolidiert« man sich selber und die unmittelbare Umgebung. Versuche erst gar nicht, das Boot ins Wanken zu bringen. Mach Kompromisse und betritt das Schiff mit einem leicht schüchternen Lächeln  – nimm dir eine Kajüte in der zweiten Klasse oder suche dir einen Platz am Gang – damit du bei Bedarf schnell wieder gehen kannst! Eine gegen dich gerichtete Entscheidung wird meistens lange reifen und kann noch während des Reifungsprozesses korrigiert werden. Wenn sie aber gereift ist, hast du nicht den Hauch einer Chance, sie zu revidieren. Außer du bist in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, was du meistens als ein Einwanderer nicht bist. Hasse nie, auch wenn du mit einem wenig verdeckten Sadismus konfrontiert wirst. Liebe auch nicht deine Peiniger, denn wie soll eine solche Liebe funktionieren? Mach dich eher kleiner als größer, gib dich aber auch solidarisch und loyal, wenn du das positiv Normale an deinem Arbeitsplatz leben willst. Finde die Visionäre, verbünde dich mit ihnen! Du wirst sie alle eines Tages kennen; es gibt nicht viele davon in Deutschland, sie halten still – aber es gibt sie!

Merke: Wenn alles Turbulente vorbei ist, du das oben Beschriebene gelernt hast und nun äußerlich gelassen und positiv gestimmt erscheinst, dann tritt der Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band Das Geschenk Cäsars in Kraft: »Du kennst mich doch, ich hab’ nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!« Gegen diesen Satz bist du leider machtlos, deine Kinder vielleicht nicht mehr – warte ab.

Wir sehen uns auf dem Friedhof, doch auch er will zunächst dauerfinanziert werden – du hast bestimmt die grünen Warnzettelchen auf den unbezahlten Gräbern gesehen. Die Toten werden angemahnt  – das Amt funktioniert auch im Jenseits. Denke an dich, wertschätze die anderen und hoffe für deine Kinder. Dein Herbst wird bestimmt zu deren Frühling  – und das ist keine schlechte Perspektive! Viel Glück beim Arbeiten in Deutschland, mein Freund! Bleibe geduldig und loyal, rede mit Leuten und wiederhole selber nicht, was du bei den anderen früher kritisiert hast  – wir Einwanderer sind Chamäleons und neigen stark zu einer unbewussten Mimikry.

Ich habe einen großen Respekt vor deinem Weg und wünsche dir das Beste!

Dein Dmitrij

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