литературный журнал

Übersetzerin Vera Bischitzky: Jede Übersetzung ist nur eine Annäherung

Interview

Das Interview wurde im Heft 1/2016 herausgegeben

Vera Bischitzky (1950, Ost-Berlin) — Philologin, Slawistin, Übersetzerin aus dem Russischen ins Deutsche. 1986 übersiedelte sie nach West-Berlin. Vera Bischitzky hat zahlreiche Bücher von verschiedenen Autoren übersetzt und herausgegeben. 2010 wurde sie für die Neuübersetzung von Nikolai Gogols „Toten Seelen“ mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. 2014 wurde ihr für die Herausgabe von Werken Iwan Gontscharows in Uljanowsk, Russland, der Iwan-Gontscharow-Literaturpreis verliehen. Der Chefredakteur der „Berlin.Berega“ Grigorii Arosev spricht mit Vera Bischitzky.


„Berlin.Berega“: Liebe Frau Bischitzky, ich habe gelesen, dass Ihre Eltern die russische Sprache sehr geliebt haben. Ist das wahr und wenn ja, haben sie Sie mit dieser Liebe angesteckt?

Vera Bishitzky: Es war vor allem die Liebe zur russischen Literatur, die mir meine Eltern vermittelt haben. Bücher von Puschkin, Lermontow, Gogol, Tolstoi, Turgenjew, Tschechow, Gorki, Scholochow bevölkerten unsere Bücherschränke – in deutschen Übersetzungen, denn unsere Familie hat keine russische Wurzeln, wie oft anhand meines Namens angenommen wird (der Name Bischitzky ist tschechischer Herkunft, nach dem kleinen Städtchen Byšice bei Prag, aus Prag stammte mein Großvater, daher auch mein Vorname).

In unserem Haus herrschte der Geist der „anbetungswürdigen, heiligen russischen Literatur“, wie es Thomas Mann im „Tonio Kröger“ ausgedrückt hat. Irgendwie hat sich diese Atmosphäre wohl unbewusst schon auf mich übertragen, als ich noch klein war. Außerdem bin ich im (Ost)Berliner Stadtteil Karlshorst aufgewachsen. In meiner Kindheit war dort das Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte. Ich wollte gern mein Schulrussisch erproben und habe mich tollkühn unter die Soldaten gemischt. Das war merkwürdigerweise gar nicht schwer. Nicht weit von unserer Wohnung entfernt, vielleicht eine Viertelstunde, war das sowjetische Panzerübungsgelände. Komischerweise, wie ich heute finde, war es gar nicht abgezäunt. Mit dreizehn, vierzehn Jahren bin ich dahin gegangen und habe den Panzern zugesehen, wie sie im Schlamm manövrierten oder repariert wurden usw. Und ich habe Freundschaften geknüpft mit den Panzersoldaten – ich wundere mich noch heute über meine Kühnheit und auch über das Vertrauen, das meine Eltern in mich hatten.

Später dann, als Jugendliche, bin ich mit Puschkin-Verse rezitierenden Jünglingen, Söhnen sowjetischer Offiziere, durch die nach Flieder und Jasmin duftenden Straßen von Karlshorst spaziert. Das war romantisch … Im Frühling, wenn der Flieder blüht, denke ich oft an diese Spaziergänge zurück. Der Höhepunkt der Woche aber war für mich der Mittwoch. Das war der Kinotag in sowjetischen „Haus der Offiziere“. Ich schaute mir im halbleeren Saal russischsprachige Spielfilme an, auch wenn ich fast nichts verstand. Bereits der Vorfilm faszinierte mich, meist war es eine Dokumentation über die unendlichen Weiten Sibiriens, eine seltene Tierart oder sonstige Denkwürdigkeiten aus der Welt der Natur oder Wissenschaft. Es waren weniger die Bilder oder Worte – ich verstand ja nur einen Bruchteil der fremden russischen Sprache – als vielmehr die Stimmung, der Klang, die sonore, bisweilen pathetische Stimme des Sprechers, die mich in ihren Bann zog. Das war wunderbar. Eine andere, fremde Welt. Heute versuche ich manchmal zu ergründen, was es eigentlich war, das mich so faszinierte. Vielleicht war – und ist – es die größere Emotionalität, die meinem Wesen mehr entspricht als die eher sachliche, zurückhaltendere deutsche Wesensart… Leider musste ich immer allein dorthin gehen, denn meinen Schulfreundinnen kamen diese Ausflüge allzu absonderlich vor, niemand wollte mich begleiten. Für die allermeisten meiner Mitschüler waren „die Russen“ nichts als die Besatzer. Für meine Familie dagegen die Befreier – ich bin ja kurz nach dem Krieg aufgewachsen, in den 50er, 60er Jahren.

Um aber noch einmal auf meine Eltern zurückzukommen:

Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Von Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.

So schrieb Goethe über seine Eltern. In meinem Falle muß man nur die Reihenfolge verändern – die „Frohnatur“ und „die Lust zu fabulieren“ habe ich eindeutig von meinem Vater, „des Lebens ernstes Führen“ von meiner Mutter …

Die Liebe für meine Arbeit, die Begeisterung für die Literatur, ja für das Leben, verdanke ich meinen geliebten Eltern, die leider schon seit langer Zeit nicht mehr leben. Ohne die Erziehung in meinem Elternhaus hätte ich wohl nie den Mut, die Kraft und die Geduld aufgebracht, die nötig sind, um sich an die Neuübersetzung und wissenschaftliche Analyse so großer Autoren wie Gogol, Gontscharow, Turgenjew, Tschechow zu wagen. Und ohne die Atmosphäre, die in meinem Elternhaus herrschte, hätte mich die Literatur nicht derart in ihren Bann geschlagen.

In Ihrem Essay, der in der russischen Zeitschrift „Inostrannaja Literatura“ veröffentlicht wurde (10/2009) haben Sie geschrieben: „Mein Vater hat doch auch die Hoffnung auf ein neues Lied, ein besseres Lied in mein Herz gepflanzt“. Ihre Aussage bezieht sich auf ein Gedicht von Wolf Biermann, der von einem „besseren Deutschland“ geträumt hat. Wovon hat Ihr Vater (und haben vielleicht auch Sie) geträumt, worauf haben er und Sie gehofft?

Meine Familie hat während der Nazizeit viel Leid erlebt, meine Eltern haben daraus den für sie einzig richtigen Schluss gezogen: daran mitzuarbeiten, ein besseres Deutschland aufzubauen. Sie waren beide Träumer, Idealisten. Haben tatsächlich daran geglaubt, dass man die Menschen und die Welt besser, gerechter, friedlicher machen könne. Beide haben nach dem Krieg, Ende der vierziger Jahre, bewusst ein Studium an der im Ostteil der Stadt liegenden Humboldt-Universität aufgenommen, statt an der im Westen neu gegründeten Freien Universität, obwohl beide im Westteil der Stadt wohnten. Meine Mutter studierte Medizin, mein Vater Slawistik. Und etwas später sind beide auch von West-Berlin nach Ost-Berlin umgezogen, wo ich dann geboren wurde. Die Ironie der Geschichte will es, dass ich fünfunddreißig Jahre später desillusioniert wiederum von Ost nach West übergesiedelt bin. Damals, Mitte der achtziger Jahre, stand die Mauer noch, es war eine Emigration innerhalb derselben Stadt, ein völlig absurder Zustand, den man heute nur noch schwer nachvollziehen kann …

Heinrich Heine, aus dessen „Wintermärchen“  das Zitat vom „neuen Lied, besseren Lied“ stammt, war ein ständiger Begleiter meiner Jugend, beinahe ein Verwandter, ein Geistesverwandter in jedem Falle. Bis heute ist er mein Lieblingsdichter – in meiner Jugend trug ich übrigens schwärmerisch sein Porträt in meiner Brieftasche mit mir herum! Wie wunderbar es doch wäre, könnte es gelingen, “hier auf Erden schon das Himmelreich“ zu errichten. Meine Eltern haben lange daran geglaubt, haben sich dafür eingesetzt, naiv an das Gute geglaubt, trotz all der negativen Entwicklungen und schrecklichen Entgleisungen, die sie natürlich auch gesehen haben. Die Heine-Strophen über die „Zuckererbsen“ kennen die meisten, aber ich möchte sie trotzdem noch einmal zitieren, sie sind sehr schön:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Mit dieser Maxime bin ich also aufgewachsen. Bekanntlich ist allerdings der von Heinrich Heine prophezeite „Zuckererbsenregen“ für jedermann bis heute ausgeblieben. Und er wird wohl auch in Zukunft nicht auf die Menschheit niederprasseln, so sehr wir uns das auch wünschen …

Und was den Himmel betrifft, das Delegieren der Verantwortung auf „höhere Mächte“, so erschreckt mich die heutige Renaissance der Religionen, nie hätte ich das für möglich gehalten. Zwar verstehe ich, dass sich die Menschen nach einem Halt sehnen, nach einer Richtschnur im Leben, aber das, was wir heute in vielen Ländern der Welt beobachten, macht mich fassungslos. Menschen lassen sich wieder zum Spielball der Macht degradieren, lassen sich aus Karrieregründen, aus Angst, Unwissenheit usw. das eigene Denken absprechen. Das ist eine Entwicklung, die mich sehr bestürzt.

Ich erhielt übrigens meine erste Lektion in Sachen „Selberdenken“ im August 1968, als die sowjetischen Panzer in Prag einmarschierten und den Prager Frühling niederwalzten. Damals ging auch der erste Riss durch unsere Familie, denn einer meiner Onkel, ein Russistik-Professor in Prag, wurde, als Sympathisant Alexander Dubčeks, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der Universität entlassen und aus der KPČ ausgeschlossen. Ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ war nicht erwünscht. Als dieser Onkel, der geachtete Literaturwissenschaftler und Auschwitzüberlebende, dann plötzlich als Weichensteller bei der Bahn arbeitete, verstand ich, mit meinen achtzehn Jahren, die Welt nicht mehr. Vor allem verstand ich nicht, dass mein Vater, den ich immer als guten, klugen Menschen erlebt hatte, diesen „Prager Frühling“ ablehnte und den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag und den Rauswurf des Onkels rechtfertigte. Alle Gewissheiten, „Wahrheiten“ begannen für mich ins Wanken zu geraten. Ich begann Fragen zu stellen und die Antworten befriedigten mich nicht mehr. Von diesem Moment an war ich immun gegen jede Art von Indoktrination …

Hier möchte ich noch ein Zitat anführen: es ist eine wunderbare Stelle aus Isaak Babels «Gedali»:

Revolution? Nun gut, sagen wir ja zu ihr, zur Revolution, werden wir deshalb aber zum Sabbat nein sagen? So beginnt Gedalja und umschnürt mich mit den seidenen Gebetriemen seiner rauchgrauen Augen […]  Gute Taten werden von guten Menschen vollbracht. Die Revolution ist eine gute Tat von guten Menschen. Aber gute Menschen töten nicht.[…]. Und wir alle, wir gelehrten Leute alle, wir neigen unser Gesicht zur Erde und schreiben aus voller Kehle: Wehe uns, wo bleibt die süße Revolution?

Ihre Entscheidung, die Russische Sprache als Studienobjekt auszuwählen, sieht unlogisch, paradox, riskant und sogar gefährlich aus. Es scheint, dass alles dagegen gesprochen hätte. Wie kam es, dass Sie dennoch diese Entscheidung getroffen haben?

Nein, für mich war es eine ganz logische Folge. Ich habe ja schon erzählt, dass ich die russische Sprache, die russische Literatur sehr liebte, dass alles Russische in meiner Familie positiv assoziiert war und dass ich vor allem auch emotional im Banne des „Mythos der russischen Literatur“ stand. Meine Mitschüler belächelten mich, zogen mich liebevoll auf, hatten wenig Verständnis für meinen „Spleen“, aber ich habe schon immer getan, was ich wollte, was für mich richtig war, auch gegen Widerstände von außen. Einmal sogar haben mich meine Freunde bei einer Silvesterfeier mit einer Flasche Wodka auf die Probe stellen wollen, wollten sehen, wie weit meine Selbstaufopferung, vielleicht auch Mimikry (so haben sie es wohl gesehen) gehen würde. Ich habe nicht kapituliert, sondern das Wasserglas voll Wodka ausgetrunken – ich war damals achtzehn Jahre alt, wollte keine Schwäche zeigen (heute würde ich solche Experimente natürlich nicht mehr machen). Gegen den Strom zu schwimmen ist eine Herausforderung, wenn auch manchmal ziemlich anstrengend!

Für die allermeisten waren „die Russen“, wie gesagt, die ungeliebte Besatzungsmacht – besonders in Karlshorst waren sie ja täglich präsent, sie fuhren sogar – noch in den sechziger Jahren – in den Panzern über die Straßen unseres Wohnviertels. Ich erinnere mich genau, dass häufig morgens gegen vier, fünf Uhr lange Kolonnen von sowjetischen Panzern über unsere Straße rollten, die Fensterscheiben klirrten, die Dieselabgase drangen durch die Fensterritzen, man wachte auf. Wenn ich dann um halb acht Uhr zur Schule ging, war unsere Straße von den Panzerketten wieder etwas stärker zerkratzt … Das war der Alltag. Manche der Häuser in unserem Viertel waren beschlagnahmt, überall in den Straßen sah man sowjetisches Militär. Doch über die Frage, WARUM die Besatzungsmacht eigentlich da war, dachten wohl nicht so viele nach, oder sie waren noch von der Nazi-Propaganda infiziert, ich weiß es nicht…

Sich für Russisches zu interessieren, galt damals jedenfalls als absurd, verdächtig, zumindest aber als angepasst oder im besten Falle als völlig weltfremd. Allerdings: meine Freunde kannten mich ja und sahen, dass diese Kriterien nicht auf mich zutrafen, nun ja, naiv und weltfremd, das traf vielleicht doch zu … Ich trug wohl den Stempel der Exotin, und damit konnte ich leben… Ich war (und bin) aber auch kämpferisch und habe mich immer dafür eingesetzt, gegen Vorurteile anzutreten. Das tue ich auch heute noch.

Doch ich hatte gar nicht von Anfang an die Absicht, ein Studium der russischen Sprache und Literatur aufzunehmen. Ursprünglich wollte ich Archäologin werden. Die Hochkulturen der Antike haben mich schon als Schülerin fasziniert, das alte Ägypten, Griechenland, Rom, das biblische Judäa … Als Jugendliche hatte ich C. W. Cerams  faszinierendes Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“ gelesen, den „Roman der Archäologie“, wie es im Untertitel hieß, in dem der Autor die Geschichte der Archäologie wie einen Abenteuerroman schildert. Ganz besonders das Kapitel über Howard Carter begeisterte mich, der jahrzehntelang in Ägypten Grabungen anstellte und schließlich den „Fund des Jahrhunderts“ machte und das unversehrte Grab Tutanchamuns fand. Auch in der Schule sprach unser Kunst-Lehrer enthusiastisch über die griechische, die römische Kunstgeschichte, wir zeichneten dorische und korinthische Säulen… Besonders erinnere ich mich noch heute an die Unterrichtsstunde über Tutanchamun; der Lehrer konnte vor Begeisterung nicht stillstehen, er lief im Klassenzimmer umher, seine Augen leuchteten, als er uns vom sensationellen Fund des Grabes dieses ägyptischen Pharao erzählte. Mein Entschluss war gefasst: ich wollte auch zu Grabungen aufbrechen, Hieroglyphen entziffern, Entdeckungen machen, alte Tonscherben in meinen Händen halten, die Lebensumstände, die Kultur, die Gewohnheiten jener Menschen erforschen, die tausende Jahre vor uns gelebt hatten. Also stand fest, ich würde Archäologie studieren. Doch bei näherer Überlegung fiel mir ein, dass ich ja in einem eingemauerten Land mit hermetisch verschlossenen Grenzen lebte. Man würde mich gar nicht nach Griechenland, Italien oder Ägypten reisen lassen, von Israel ganz zu schweigen.

Diese Erkenntnis war ernüchternd. Da ich aber Maximalistin bin legte ich den Studienwunsch schweren Herzens ad acta. Die Liebe zur Thematik ist jedoch bis heute geblieben, Museen gibt es viele, auch Bücher wie Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, Reisen ist meine Leidenschaft und eine Art Archäologin der Sprache, der Literatur-und Kulturgeschichte bin ich ja tatsächlich geworden … Bei meiner letzten Reise nach Jerusalem übrigens habe ich in einem Museum ein ganz wunderbares kleines Amulett aus Elfenbein gesehen, einen Talisman der schreibenden Zunft aus dem alten Ägypten, es zeigt Thot, den Gott der Schreiber, also jener, die im alten Ägypten Texte verfassten. Sie waren hochangesehen und hatten einen eigenen Schutzgott, Thot, der in Gestalt des Ibis dargestellt wurde. Wie berührend das kleine Amulett ist, beschirmt von Thot sitzt er da, vertrauensvoll und glücklich. Ich habe mir das Foto über den Schreibtisch gehängt.

Ihre zweite Fremdsprache war Englisch. War das eine sozusagen unbedingte Voraussetzung, noch eine Sprache zu lernen? Oder haben Sie sich auch für Englisch interessiert?

Das haben Sie genau richtig vermutet. Englisch hat mich nie besonders interessiert. Eigentlich wollte ich reine Slawistik studieren. Doch an der Humboldt-Universität fingen nur alle zwei Jahre neue Slawistik-Studiengänge an. Ich hätte also nach dem Abitur ein Jahr warten müssen. Das war zu DDR-Zeiten, jedenfalls zu meiner Zeit, aber nicht vorgesehen, nicht möglich, einfach ein Jahr lang auszusetzen. Es war ja alles durchgeplant, vermutlich ebenso wie in der UdSSR. Schule-Studium-Beruf  (bzw. die Variante Schule-Armee-Studium-Beruf für die Jungen). Ich hätte zum Studieren in eine andere Stadt gehen müssen, das aber wollte ich nicht, mir gefiel die häusliche Geborgenheit, es ging auch tolerant und weltoffen zu in meiner Familie. Ich habe mich in meinem Elternhaus immer wohl gefühlt. Also blieb ich in Berlin und wählte neben Russisch noch ein Zweitfach. Ich hätte gern Germanistik dazu genommen, aber auch diese Kombination wurde an der Humboldt-Universität nicht angeboten, auch dafür hätte ich in eine andere Stadt gehen müssen, also wählte ich als Zweitfach Anglistik. Aber ohne besondere Begeisterung. Der anglo-amerikanische Kulturkreis ist natürlich auch interessant, aber er ist mir eher fremd geblieben.

Wie erschien Ihnen die russische Sprache (ohne kulturelle und politische Hintergründe) – war sie für Sie leicht? Was war für Sie besonders schwer?

Diese Frage zu beantworten fällt mir heute schwer, ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Schwierigkeiten ich hatte. Es war wohl vor allem die Grammatik, alles Theoretische. Auch Fächer wie Linguistik usw. waren eher Pflicht für mich, das notwendige Übel, viel lieber habe ich die Vorlesungen und Seminare zur Literatur oder Landeskunde besucht. Auch der reine Sprachunterricht hat mir gut gefallen, besonders bei Dozenten, die russische Muttersprachler waren. Und ich habe gern russische Lieder gesungen – übrigens manchmal auch mit meinem Vater.

Damals, in den sechziger Jahren, geisterten merkwürdigerweise Visionen für die Zukunft durch die Zeitungen und Radiosender: man hörte immer wieder von Übersetzungsrobotern, die es in der Zukunft geben sollte. Ich erinnere mich noch genau an eine solche Radiosendung, es war vielleicht Ende der 60er Jahre. Da ging es einerseits um Transportbänder auf allen Straßen der Städte der Zukunft. Der Mensch der Zukunft würde sich nicht mehr gehend durch die Städte bewegen, so die Perspektive, sondern sanft rollend auf mechanisch betriebenen Laufbändern von einem Ort zum anderen gleiten. Das gefiel mir nicht, denn ich ging sehr gern zu Fuß durch die Straßen – daran hat sich auch bis heute nichts geändert.

Noch viel weniger angetan war ich aber von der Aussicht auf diese Übersetzungsroboter. Es hieß, fremde Sprachen zu erlernen werde sehr bald überflüssig sein. Die Zukunft halte Maschinen bereit, die das Übersetzen von einer Sprache in die andere übernähmen! Wohlgemerkt: in den sechziger Jahren, lange vor den ersten Heim-Computern. Viele der Radio-Hörer wird diese Aussicht erfreut haben, für mich aber war es natürlich keine rosige Perspektive, denn ich hatte doch soeben beschlossen, ein Sprachenstudium zu beginnen. Würde mein künftiger Beruf überflüssig werden? Sollte ich meine Pläne umwerfen? Nein, das kam nicht in Frage. Ich beschloss, den Zukunftsphantasien zu misstrauen und meine Vorhaben in die Tat umzusetzen, komme was da wolle. Heute gibt es tatsächlich hie und da Transportbänder, auf Flughäfen etwa oder in unendlich großen Messehallen, durch die Städte aber spazieren wir glücklicherweise noch immer zu Fuß. Und Übersetzungsprogramme produzieren meist einen Wortsalat, der niemandem mundet.

Können Sie sich an Ihrer ersten Übersetzung aus dem Russischen erinnern?

Ja, sehr gut, und zwar nicht so sehr daran, was für ein Text das war, als vielmehr an die Folgen, das heißt an das Honorar. Es war nämlich mein erstes Honorar. Ich arbeitete damals als Redakteurin, in einem Verlag, noch in Ost-Berlin, es muss ca. 1980 gewesen sein. Eines Tages fragte mich eine Kollegin, ob ich einen längeren Zeitschriftenbeitrag übersetzen wolle, auf Honorarbasis, über ein pädagogisches Thema, genau erinnere ich mich nicht mehr an die Thematik. Ich glaube, es war ein Text über die Vorschulpädagogik.  Es muss ein recht umfangreicher Artikel gewesen sein, denn ich habe damals ein ziemlich hohes Honorar bekommen. Und da es mein allererstes Honorar war, neben meinem monatlichen Gehalt, dachte ich: dafür muss ich auch etwas Besonderes kaufen. Und weil ich gern Tee trinke, kaufte ich eine Teekanne. Aber nicht irgendeine, sondern eine aus Meißener Porzellan. Meine Kollegen fanden das damals absurd – warum nicht etwas Nützliches, irgendein elektrisches Gerät für den Haushalt zum Beispiel … Das ist jetzt fünfunddreißig Jahre her. Das elektrische Haushaltsgerät wäre inzwischen längst verschrottet, die Teekanne aber habe ich noch immer, und noch immer freue ich mich beim Teetrinken daran. Und außerdem erinnert sie mich auch an meine allererste Übersetzung …

Soweit mir bekannt ist, haben Sie folgende Autoren übersetzt: Tschechow, Gogol, Gontscharow, Schalamow, Tarkowski, Alexijewitsch, Rubina, Dubnow, Zeitlin, Bereschkow… Sind alle erwähnt oder fehlt jemand? Haben Sie die Autoren selbst ausgewählt oder haben Sie jedesmal mit einem Verlag einen Vertrag über ein bestimmtes Werk unterschrieben? Und wie gehen Sie konkret vor bei Ihrer Arbeit?

Von Schalamow und Alexijewitsch habe ich nur je einen kleinen Text übersetzt, beide Autoren haben ja ihre „Stammübersetzerinnen“ ins Deutsche, außer den genannten Autoren auch noch einige Werke aus dem Englischen und viele kleinere Beiträge, für Sammelbände, Zeitungen, Zeitschriften, Kataloge. Ich habe ja – mit der Ausnahme dieses gerade erwähnten Beitrags über Vorschulpädagogik – erst vor ca. 20 Jahren mit dem Übersetzen begonnen, davor habe ich seit 1980 als freie Lektorin und Redakteurin russischer Literatur gearbeitet. Außerdem habe ich auch zahlreiche Artikel veröffentlicht, in Zeitschriften, Zeitungen, Sammelbänden (Essays, Feuilletons, Beiträge zu kulturhistorischen Themen, u.a. über Thomas Mann, Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Wolf Biermann, Anton Tschechow, Iwan Gontscharow, Nikolai Gogol usw.).

Was die Verträge betrifft – ohne einen Vertrag kann man natürlich nicht arbeiten, für alle erwähnten Bücher habe ich zuerst Verträge abgeschlossen, aber seit ca. 15 Jahren wähle ich die Bücher, die ich gern herausgeben und übersetzen möchte, auch selbst aus. Ich schlage dem Verlag bzw. dem Lektorat ein bestimmtes Buch vor (bevor ich mit der Arbeit beginne) und hoffe, dass ich sie überzeugen kann. Das hat sich bei mir so entwickelt, weil ich erstens vom Wesen her missionarisch veranlagt bin und anderen gern das präsentieren möchte, was ich für wichtig und unbedingt lesenswert halte und außerdem – auch ein nicht unwichtiges Kriterium für mich: Ich kann diese immense Arbeit nur bewältigen, wenn ich einen Gleichklang spüre zwischen dem Autor, seinem Werk und meiner Sicht auf die Welt, meiner Gefühlswelt. Deshalb betätige ich mich seit vielen Jahren nicht nur als „reine Übersetzerin“ eines literarischen Werks, sondern auch als Herausgeberin. Das beinhaltet neben der Auswahl des Buchs und der bisweilen anstrengenden Verlagssuche auch, vor allem bei den Klassikern, ein Nachwort zur Einordnung des Werks und eine umfangreiche Kommentierung. Die Recherche dafür ist immer sehr beglückend und bereichernd für mich.

Zur Recherche gehören auch landeskundliche Reisen nach Russland oder in die Ukraine oder nach Israel, der Kontakt mit den Autoren, wie mit Dina Rubina oder Jewsej Zeitlin, aus denen sich eine langjährige Freundschaft entwickelt hat. Oder, im Falle der Klassiker, der Austausch mit Literaturwissenschaftlern aus aller Welt, Spezialisten für diese Klassiker, auch mit den Museumsmitarbeitern, z.B. in Wassiljewka (Gogol), Simbirsk-Uljanowsk (Gontscharow), Spasskoje Lutowino (im Falle Turgenjews, meiner aktuellen Arbeit), die Arbeit in Archiven, z. B. in Jerusalem, als ich Bücher von Simon Dubnow herausgegeben habe. Wie bewegend es für mich war, Simon Dubnows Aufzeichnungen zu seinem großen zehnbändigen Werk «Weltgeschichte des jüdischen Volkes» durchzusehen, Blatt für Blatt seiner Notizen in die Hand zu nehmen. An einem dieser Tage hielt ich plötzlich einen Brief Albert Einsteins an Dubnow aus dem Jahr 1925 in der Hand, in dem Einstein den Historiker Dubnow, der damals in Berlin lebte, zu sich nach Hause zu einer Sitzung über die neu zu gründende Hebräische Universität in Jerusalem einlud, bei der auch Chaim Weizmann anwesend sein sollte. Die Sitzung fand drei Monate vor der Eröffnung der Universität in der Schöneberger Haberlandstraße statt, „abends um 8 Uhr, pünktlich in meiner Wohnung“ … Das sind wunderbare Momente.

Beglückend ist auch das Eintauchen in die Archive des Puschkin-Hauses in St. Petersburg. Einen Originalbrief Gontscharows aus dem Karteikasten zu nehmen, oder eine Fotografie, die er an einen Freund verschenkt hat – das sind sehr bewegende Augenblicke und auch der Lohn für die vielen Monate und Jahre der Arbeit …

Der Annäherungsprozess, das Einfühlen in die in den Büchern geschilderten Situationen, in die Atmosphäre, gar in das Seelenleben der Helden erfordert viel mehr als nur Sprachverständnis. Man muss tief in die Welt des Autors eintauchen und sich mit den historischen, kulturellen und auch biographischen Umständen vertraut machen. In der Praxis bedeutet das auch, im Vorfeld oder parallel zur Übersetzungsarbeit Berge von Büchern, Briefen, Tagebucheinträgen des Autors und seiner Zeitgenossen zu lesen, ja, für eine gewisse Zeit sogar die Gegenwart auszublenden und gedanklich in der Welt des Autors zu leben, um die im Roman geschilderten Gedanken, Gefühle und Handlungen nachvollziehen zu können. Selbst kulinarische Erfahrungen gehören dazu: erst nachdem ich während einer Reise durch die Ukraine in Poltawa eine „Okroschka“ gegessen hatte, diese köstliche kalte Suppe, konnte ich Oblomows Träumerei vom idealen Sommertag nachempfinden:

Dann, wenn die große Hitze nachlässt, würden wir einen Leiterwagen mit dem Samowar und dem Dessert ins Birkenwäldchen schicken, oder aufs Feld hinaus, auf eine gemähte Wiese, zwischen den Heuschobern würden wir Teppiche ausbreiten und bis zur Okroschka und dem Beefsteak in Glückseligkeit schwelgen.

Natürlich kann man einen Begriff auch übersetzen, ohne die beschriebene Realie „in natura“ erlebt zu haben, doch das Übersetzen von literarischen Werken erfordert es ja auch, Gefühle zu übertragen, die zwischen den Zeilen mitschwingen. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe.

Aber schwierige Aufgaben gibt es viele… Nehmen wir beispielsweise Gogols „Tote Seelen“. Alle Welt ist in diesem Roman geschäftig und meist auch in Geschäften unterwegs: Tschitschikow mit seiner legendären gefederten Kalesche, gezogen von einer Troika, deren Pferde uns schon dem Namen nach bekannt sind, vom Assessor bis zum listigen Schecken; die schwarzfüßige Pelageja auf Selifans Kutschbock; Nosdrjow mit dem Klapperkasten, der von mageren, langmähnigen Mietpferden vorwärtsgeschleppt wird, die Gouverneurstochter mit dem prachtvollen Sechsergespann; der Bauer mit seinem hochbeladenen Leiterwagen, wie er da in Pljuschkins Hof einfährt; Frau Korobotschka mit ihrem höchst sonderbaren Gefährt, das weder einem Reisewagen noch einer Kutsche oder einer Kalesche, sondern einer auf Räder gestellten bauchigen, dickwangigen Melone gleicht; der Feldjäger mit der Staatskarosse, dessen Troika im Donner und Staub der Landstraße verschwindet; Tschitschikows Vater in seinem kümmerlichen Bauernwagen, der Polizeimeister mit seiner Droschke, der Kaufmann, der versessen auf Traber ist, mit dem leichten Wagen  … Sämtlich sind sie in Bewegung, endlos zieht die Karawane an uns vorüber, all die Equipagen, Kutschen, Reisewagen, Droschken, Fuhren, Bauernwagen, Kremser, Klapperkisten, Quietschkommoden… Und für jedes Gefährt muß das richtige deutsche Wort gefunden werden, was noch eine der verhältnismäßig leicht zu lösenden Herausforderungen darstellt. Wie aber die vielen verlockenden Speisen wiedergeben, die den Protagonisten so verschwenderisch aufgetischt werden? Es ist ja ein doppelter Transfer vonnöten: aus einem Kulturkreis in einen anderen und aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ins einundzwanzigste… Viele der Gerichte und der anderen Realien sind auch dem heutigen russischen oder ukrainischen Leser nicht mehr vertraut, manche finden sich nicht einmal in historischen Kochbüchern…

Die „Melone“ der Frau Korobotschka ist „vollgestopft mit Säcken voller Brot, mit Kalatschi, Kokurki, Skorodumki und süßen Kringeln. Eine mit Hühnerfleisch gefüllte Pirogge und eine Pirogge-Rassolnik lugen sogar oben heraus.“

Was aber ist eine Pirogge-Rassolnik ? Rassol  – das ist die Salzlake, in der Gurken säuern, unter Rassolnik versteht man heute eine Fleisch- oder Fischsuppe, der eben jene Gurkenlake hinzugefügt wird. Welchen Zusammenhang aber kann es geben zwischen einer Pirogge (also einer Pastete aus Blätter- oder Hefeteig) und einer auf der Basis von Gurkenlake gekochten Suppe? Eventuell könnte es eine Pirogge sein, die man zu dieser Suppe serviert … Doch in einem seiner Notizbücher gibt uns Gogol glücklicherweise Auskunft über die Pirogge-Rassolnik: „Pirogge mit Huhn und Buchweizengrütze, in die Füllung kommen Gurkenlake und gehackte Eier hinein“. Ein Problem wäre also, wenn auch unter ungeheurem Kraft- und Zeitaufwand, gelöst – ins Deutsche transformieren kann man das Doppel-Wort allerdings trotzdem nicht. Diese und ähnliche Begriffe, für die es im Deutschen kein Äquivalent gibt, habe ich deshalb im russischen Originalwortlaut beibehalten und mit einer erläuternden Anmerkung versehen…

Für das Verständnis einer fremden Kultur ist auch die Beobachtung des Alltags „vor Ort“ sehr wichtig. So habe ich zum Beispiel einmal, als ich auf Tschechows Spuren in Taganrog war, eine Hochzeitsgesellschaft gesehen, mit einem Brautführer, die Gesellschaft sang zu Akkordeonklängen Tschastuschki usw. Das ist wunderbar, denn so bekommt man eine anschauliche Vorstellung, quasi live, „mit Ton und in Farbe“.  Auch die arroganten russischen Beamten und ihre unterwürfigen Untergebenen gab es wie eh und je, als seien sie Tschechow-Erzählungen entsprungen!! Und ich sah die typischen einstöckigen Häuser, hellgrün oder ockerfarben getüncht, mit dem Schutzdach vor der Eingangstür und die unvermeidlichen grauen Bretterzäune (von denen Tschechow in der „Dame mit dem Hündchen“ schrieb:

Direkt gegenüber erstreckte sich ein grauer Zaun, der mit Nägeln besetzt war. Vor solch einem Zaun kann man nur Reißaus nehmen, dachte Gurow.“

Das eine oder andere Haus trug eine Tafel, der man entnehmen konnte, hier habe der Prototyp der Tschechow-Erzählung x und dort der Held der Erzählung y gewohnt. Wie viel näher rückten mir die Texte auf diese Weise!

Natürlich gehören auch Besuche von Museen oder Galerien zur Vorbereitung, denn z.B. aus Genregemälden kann man sehr viel über den Alltag, die Kleidung, die Möbel, sogar über das Verhalten erfahren. Auch die Beschäftigung mit der Musik der jeweiligen Zeit gehört zur Vorarbeit, zur Inspiration. So spielt beispielsweise bei der Anbahnung der Beziehung zwischen Olga und Oblomow die Casta-Diva-Arie von Bellini eine wichtige Rolle: erst nachdem ich sie in Interpretationen von Maria Callas, Montserrat Caballe oder Anna Netrebko gehört hatte, konnte ich den emotionalen Gehalt der entsprechenden Textpassagen wirklich nachvollziehen.

Und auch das „reine Übersetzen“ ist ein sehr langwieriger Prozess. Im Falle des „Oblomow“ zum Beispiel habe ich mir während der Arbeit oft Passagen aus einem russischen Hörbuch des Romans angehört, denn natürlich spielt auch der Klang, der Rhythmus beim Nachschöpfen eine große Rolle. Auf diese Weise habe ich versucht, so tief wie möglich in die Sprach- und Formenwelt des Autors einzudringen, dem Sprachrhythmus, dem emotionalen, auch dem humoristischen, ironischen, ja tragikomischen Gehalt des Textes nachzuspüren. Und als sich die Arbeit am Manuskript schließlich ihrem Ende näherte, blieb noch, den neu entstandenen deutschen Text – geduldige Zuhörer in der Familie vorausgesetzt – durch Vorlesen auf seinen Klang und etwaige rhythmische Unstimmigkeiten zu überprüfen und ihn anschließend so lange weiter zu schleifen, zu schmirgeln und zu polieren, bis sich eine Form einstellte, der jener des Originals zumindest ähnelte. Jede Übersetzung kann ja immer nur eine Annäherung sein.

Ich glaube, kein Leser kann sich später vorstellen, wie viel Zeit, Mühe, aber auch Glück bisweilen in einem einzigen übersetzten Satz steckt …

Die Sammlung Ihrer Autoren ist meiner Meinung nach ganz ungewöhnlich: es sind Klassiker darunter wie Gontscharow, Gogol, Tschechow, Turgenjew, daneben aber stehen Bereshkow, Zeitlin, Dubnow… Als Sie die Arbeit begonnen haben, haben Sie gewusst, dass diese Namen in Russland kaum bekannt sind? Sie hätten sicher auch weitere Klassiker auswählen können, aber Sie haben eine andere Entscheidung getroffen. Warum? Vielleicht hat die Tatsache, dass manche Autoren in Russland wenig bekannt sind, auch dazu beigetragen?

Mit der Neu-Übersetzung von Klassikern habe ich erst vor ca. 10 Jahren intensiv begonnen – das ist eine Art Flucht aus unserer wenig erfreulichen heutigen Zeit. Und natürlich eine Freude und auch riesengroße Ehre.

Doch das Kriterium, Werke von Jewsej Zeitlin oder Semjon Dubnow auszuwählen und den deutschen Lesern vorzustellen, war nicht der eventuelle Bekanntheitsgrad, sondern der Wert ihrer Werke. Jewsej Zeitlins Buch «Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes» ist unbedingt jedem Leser zu empfehlen. Deshalb sagte ich ja schon, dass ich missionarisch veranlagt bin… Ganz besonders empfehlenswert ist das Buch auch für russische Leser – es behandelt auf sehr kunstvolle Weise die Deformationen eines Menschen in einem (jedem) totalitären System, im Falle dieses Buches geht es um den Stalinismus.

Dass Simon Dubnow, der bedeutende Historiker und Autor der zehnbändigen „Geschichte des jüdischen Volkes“ und weiterer sehr wichtiger Werke (z.B. seiner dreibändigen Autobiografie «Buch des Lebens») in Russland nicht bekannt ist, ist eine Tragödie, wie ich finde. Es ist die Folge seiner Ausreise aus Russland, 1922. Seit dem war er persona non grata in der Sowjetunion, selbst der Besitz seiner Werke war während des Stalinismus gefährlich, viele Menschen haben seine Bücher aus Furcht vor Verfolgung sogar verbrannt. Stellen Sie sich das vor, ein geliebtes Buch aus Angst in den Ofen zu stecken. Wir kennen alle Heines Wort: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“. Im 20. Jahrhundert wurden nicht nur von den Nationalsozialisten Bücher verbrannt, sondern auch, unter Tränen, in der Sowjetunion. Und zwar von den Besitzern dieser Bücher selbst! Das ist wohl eine noch größere Tragik. Übrigens genau davon handelt unter anderem ein Kapitel in Jewsej Zeitlins Buch. Jokubas Josade, der Protagonist des Buches, ein Dramatiker, der sich am Ende seines Lebens der tragischen Wahrheit seiner Biografie stellt, erzählt:

«Die jüdischen Bücher! Zum Beispiel die Werke von Simon Dubnow. Er war doch ein ‚bürgerlicher Historiker, ein Nationalist‘, und das war trejfe. Oder Perez Markisch. Noch kurz zuvor hatte er als bedeutender sowjetischer Dichter gegolten. Aber jetzt saß er im Gefängnis – also auch trejfe. Sämtliche im Ausland erschienenen Bücher waren trejfe. Für all das konnte ich eingesperrt werden. Ja, ja, allein für den Besitz dieser Bücher. Also mußte ich sie beseitigen – fast meine gesamte Bibliothek oder zumindest den größeren Teil.

[…]Ich verbrannte nachts meine Manuskripte, meine Tagebücher, meine Bücher und … weinte. Ich betrachtete jedes einzelne Blatt und sagte mir: Das ist ein Stück deiner Seele. Wenn ich ein Buch von Dubnow oder vom begnadeten Bialik in der Hand hielt, mußte ich daran denken, wie ich mit ihnen aufgewachsen war, sie wieder und wieder gelesen hatte. Ich erinnere mich noch genau meiner Tränen und meiner Angst. Ich gestehe: Das waren die schwärzesten Tage und Nächte meines Lebens.“

Interessieren Sie sich für die russische Gegenwartsliteratur, und wenn ja, wie verfolgen Sie sie? Welches sind Ihre russische Lieblingsschriftsteller?

Leider bleibt mir kaum Zeit und Kraft, um intensiver in die russische Gegenwartsliteratur einzusteigen. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag des Übersetzens, der Recherche, des Studiums von Quellen rund um mein jeweiliges Buch den Computer ausschalte und die Bücher aus der Hand lege, bin ich meist zu müde, um „einfach so“ zu lesen. Lieber sehe ich mir zur Entspannung einen russischen Film an, aber auch hier bleibe ich dann meist bei den Klassikern hängen. Vor kurzen habe ich mir auf youtube die Neuverfilmung von Dostojewskis „Idiot“ angesehen, mit Jewgeni Mironow in der Hauptrolle. Großartig.

Sicherlich wurden Sie bei Ihrer Arbeit auch mit dem russischen Sinn für Humor konfrontiert. War es für Sie schwer, ihn zu verstehen? Wie eng sind die humoristischen, satirischen Traditionen der zwei Sprachen (RU und DE)?

Ich liebe jede Art von Humor, Satire, vor allem aber Ironie und ganz besonders Selbstironie. Was der sogenannte deutsche Humor sein soll, kann ich gar nicht definieren. Meiner Meinung nach ist Humor bzw. Satire eine Geisteshaltung, unabhängig von Landesgrenzen oder Nationalitäten. Heinrich Heine, Kurt Tucholsky – das sind beste Beispiele dafür, auch Thomas Mann ist bekannt für seine ironische Art, Gefühle, Gedanken zu beschreiben und sie dadurch auch gleichsam zu maskieren, zu verbergen. Ironie und erst recht Selbstironie sind ja immer auch Mittel des Selbstschutzes. Das, was man heute hier in Deutschland unter Humor bzw. Satire „verkauft“, ist wohl eher ein trauriges Indiz für die Verflachung der Gesellschaft, für ihre Infantilisierung.

Aus diesem Grund ist es mir auch nicht schwergefallen, den Humor, die Ironie oder die satirischen Aspekte in den Werken der russischen Literatur zu verstehen bzw. in meiner Sprache wiederzugeben, in den Werken von Gogol, Gontscharow, Tschechow oder auch Dina Rubina. Gerade dies entspricht sehr meiner eigenen Art, deshalb war und ist meine Arbeit auch in dieser Hinsicht ein großes Geschenk für mich.

Welche fünf russischen Bücher würden Sie empfehlen, auf eine einsame Insel mitzunehmen?

  1. Gogol „Die toten Seelen“
  2. Gontscharow „Oblomow“
  3. Ein Band mit Erzählungen Tschechows
  4. Ein Band mit Erzählungen Soschtschenkos
  5. Ein Band mit Gedichten Okudshawas

Ein Fragment des russischen Interviews können Sie hier lesen.

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