литературный журнал

Erdmute Lapp

Ein kluger Roman über Liebe, Krieg und Abschied

Rezension des neuen Buchs von Lena Gorelik

Die Besprechung wurde im Heft 1/2016 herausgegeben


Lena Gorelik: Null bis unendlich. Berlin: Rowohlt, 2015. – 296 S. ISBN: 978-3-87134-806-8 EUR 19,95

Lena Goreliks neues Buch hat den Titel Null bis unendlich, das Buch beschäftigt sich mit den Themen Liebe, Krieg (der Bosnienkrieg 1992-95), Abschied, Tod durch Krankheit.

Die Zahlenreihe null bis unendlich umfasst das Zahlenuniversum, alle 3 Protagonisten sind sehr Mathematik-affin, und gleichzeitig soll mit der Zahlenreihe versucht werden, die Unfassbarkeit der Liebe zu beschreiben.

Die Namen der Protagonisten versuchen ebenfalls, Welten zu beschreiben. Der Vorname des Protagonisten Nils Liebe ist die skandinavische Form von Nikolaus, das griechische Wort nike bedeutet Sieg. (Die Schreibweise Nils ohne e ist in Schweden und in Deutschland üblich.) Der Nachname Liebe  – der Protagonist wird durchweg mit Vor- und Nachnamen Nils Liebe genannt – bezeichnet das Hauptthema des Buches. Die Protagonistin, die 1992 14-jährig aus Bosnien nach Deutschland kommt, heißt Sanela; ihr Name ist eine Variante des ebenfalls griechischen Namens Selena und bedeutet Mondgöttin. Damit wird auf eine dunkle Seite ihres Charakters angespielt. San ist im Serbokroatischen der Traum.

Im zweiten Teil des Romas wird Sanelas Sohn Niels-Tito ebenfalls zu einer Hauptfigur. (Niels ist die in Dänemark und Norwegen übliche Schreibweise des Vornamens.) Tito ist die serbokroatische Form des lateinische Namens Titus. Tito war auch das Pseudonym des jugoslawischen Staatspräsidenten zwischen 1945-1980, der Jugoslawien zusammengehalten hat. Niels-Tito wächst in Hamburg auf, er fährt mehrfach mit seiner Mutter und Nils Liebe nach Bosnien, sein Doppelname verbindet Norden und Süden.

Die Handlung ist stark konstruiert. (Das ist eine Feststellung und keineswegs eine Kritik. Literatur schafft durch die Konstruktion Bedeutung.) Anfang und Ende des Romans finden zum selben Zeitpunkt statt, das heißt der Abschied und der Tod sind am Anfang schon vorweggenommen. Die Handlung gliedert sich in zwei Zeitabschnitte. Im ersten Zeitabschnitt kommt Sanela Pejanovic als Waise 1992 im Bosnienkrieg in eine deutsche Kleinstadt und lebt mit ihren Verwandten. Sie freundet sich mit ihrem Klassenkameraden Nils Liebe an. Beide Jugendlichen sind überdurchschnittlich begabt und in der Schule nicht gefordert. Ihre Freundschaft wächst, als sie einen Nachmittag in der einzigen Buchhandlung der Stadt damit verbringen, jeweils für den anderen Zitate aus Büchern herauszusuchen, die sie gelesen haben und die sie beeindruckt haben. Nils Liebe hat mit Sanela erstmals einen Menschen getroffen, der ihn nicht langweilt sondern herausfordert. (Ein persönlicher Kommentar: Auch weniger begabte Jugendliche sind in der Schule nicht immer angemessen gefordert. Wenn jemand sich so langweilt wie Nils Liebe, fehlt ihm zumindest Phantasie und Kreativität.) Für Sanela ist die Freundschaft mit Nils Liebe ebenfalls wichtig, sonst hätte sie ihn nicht aufgefordert, mit ihr in das bosnische Kriegsgebiet zu fahren, um das Grab ihres Vaters zu suchen.

Die Beschreibung der Reise nach Bosnien blendet Zeitebenen aus der Vergangenheit in schneller Abfolge in die Erzählung, der Effekt ist, dass der lineare Zeitablauf aufgehoben wird und die Vergangenheit Teil der Gegenwart ist. Es wird deutlich, dass Sanelas Vater die große Liebe ihres Lebens war, und da sie ihn sehr früh verloren hat, ist es leicht, ihn zu idealisieren. Andere Männer können ihrer Meinung nach den Vater sowieso nicht erreichen. (Dabei verabreicht der Vater vor seinem Abschied dem Kind Kaffee und Schnaps – sie muss sich sofort übergeben –  und das nicht eben klug zusammengestellte Frühstück von Kaffee und Zigarette, das Sanela lebenslang beibehält, ist auch von ihrem Vater inspiriert.) Nach der Rückkehr aus dem Kriegsgebiet begeht Sanela einen Selbstmordversuch, wird in eine Schweizer Klinik geschickt, danach zieht ihre Familie in das Ruhrgebiet, Sanela und Nils Liebe haben keinen Kontakt mehr.

Sanela zieht nach Hamburg, studiert Theaterwissenschaft und bekommt Anfang des neuen Jahrtausends ihren Sohn Niels-Tito. Niels-Titos Vater kommt noch vor dessen Geburt bei einem Verkehrsunfall ums Leben, Sanela erzieht Niels-Tito alleine. Nachdem bei ihr ein aggressiver Hirntumor diagnostiziert wurde, sucht sie nach Nils Liebe und findet heraus, dass er ebenfalls in Hamburg lebt. Sie schreibt ihm einen Brief wie in der Schulzeit, er antwortet wie in der Schulzeit mit Buchzitaten, u.a. von Susan Sontag, weil Sanela „starken Frauen Respekt entgegenbrachte“. Sanela lädt ihn zu einer Podiumsdiskussion anlässlich Susan Sontags zehnten Todestages ein, wo die beiden sich nach 22 Jahren Trennung wiederbegegnen. Natürlich wusste Sanlea als Theaterfrau, dass Susan Sontag 1993 im belagerten Sarajevo Samuel Becketts Waiting for Godot inszeniert hatte. Außerdem hat Susan Sontag mit Illness as Metaphor über Krebs publiziert und ist an Leukämie gestorben.

Sanela, ihr Sohn Niels-Tito und Niels Liebe beginnen, wie eine Familie zu leben; sie lieben einander, aber Menschen, die sich lieben, verletzen sich auch. Darüber hinaus sieht Liebe nicht immer so aus wie in Liebensromanen beschrieben, schon gar nicht, wenn ein Partner an Krebs leidet, die Chemotherapie nicht anschlägt und der Krebs sich in das Endstadium entwickelt. Dieser gemeinsame Weg ist ebenso ungeheuerlich wie die Reise nach Bosnien mitten im Krieg. Die Liebe als Gefühl geht verloren, aber Niels Liebe bleibt bis zum Schluss bei Sanela; er wächst über sich selbst hinaus. Nach ihrem Tod bleibt er mit dem 9-jährigen Niels-Tito zusammen.

Die Liebe und der Abschied, auch das Endstadium der Krebskrankheit sind sehr gut beobachtet und beschrieben, der Roman ist überwiegend gut geschrieben. Meine Kritikpunkte: Abgehackte kurze Sätze gelten wohl als journalistischer Stil, aber in diesem Roman wird dieses Stilmittel manchmal unvorteilhaft eingesetzt. Kann die Sequenz: „Zagreb. Dann Zug. Dann Zuhause„. (S. 74) noch als Beschreibung der Atemlosigkeit und Sprachlosigkeit nach der Erfahrung des Bosnienkriegs gelten, gibt es auch Stellen, die einfach misslungen sind: „Nils wusste nicht, wohin. Oder was. Also blieb er stehen„. (S.15) „Worüber, spielte so was von keine Rolle„. (S. 241) Der „Satz“: „Bevor es die Hrvatska vojska gebraucht hatte“ (S. 120) ist nicht Hochdeutsch. Hier ist vermutlich gemeint: „Bevor die Hrvatska vojska offiziell gegründet wurde, d.h.1991„. Auch kann man im Deutschen nicht sagen: „Der Körper dunstete auf„. (S. 263) Es muss heißen: „Der Körper quoll auf“ oder „war aufgedunsen„. Im Serbokroatischen ist „Hrvatska vojska„, die umgangssprachliche Bezeichnung für die kroatische Armee, übrigens Singular; im Text heißt es  „bevor er zu den Hrvatska vojska gegangen war“ (S. 120). Gemeint ist wohl „bevor er zu den Kämpfern der Hrvatska vojska gegangen war„. Und „moram“ heißt „ich muss„, nicht „müssen“ (S. 56).

Null bis unendlich ist ein wunderbares Buch über große Themen, es lässt uns die Liebe, den Krieg, Abschied und Tod nicht verstehen, aber es lässt uns darüber lange und tief nachdenken.

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